Stellungnahme des Theologischen Ausschusses der Generalsynode zum Thema Homosexualität
Einleitung
Die Generalsynode beauftragte im November 1992 den Theologischen Ausschuß, sich mit dem Antrag aus ihrer Mitte zu befassen, wonach
„die Generalsynode ein klärendes Wort zum Thema Homosexualität an die Pfarrgemeinden richten möge“. Denn ein Pfarrer habe „öffentlich bekanntgemacht, Homosexualität zu praktizieren und habe damit bei den Gemeindegliedern Befremden, Ärgernis und Verunsicherung ausgelöst. Es sei dringend notwendig, daß die rechtlichen Folgen für Mitarbeiter unserer Kirche, die Homosexualität praktizieren, aufgezeigt werden“.
Der Theologische Ausschuß hat sich über die biblischen und humanwissenschaftlichen Gesichtspunkte informiert, sowie Überlegungen deutscher Landeskirchen, die dort seit zehn Jahren angestellt werden, berücksichtigt. Er hat mit einem Vertreter und einer Vertreterin des „Ökumenischen Arbeitskreises Homosexualität und Kirche“ (HuK) ein Gespräch geführt. Er legt hiermit der Generalsynode seine Stellungnahme vor und bittet um eine Weiterbehandlung der Frage in den kirchlichen Gremien auf allen Ebenen. Es geht um einen Prozeß des gemeinsamen Lernens. Um diesen zu fördern und um vielen die Möglichkeit zu geben, sich am Entscheidungsprozeß zu beteiligen, bitten wir, die folgenden Überlegungen zu studieren, sie in unserem gemeinsamen Glauben an Jesus Christus zu prüfen und in eigener Verantwortung vor Ihm auf die am Schluß dieser Stellungnahme gestellten Fragen Antworten zu suchen. Auch wenn das Thema die eigene Gemeinde derzeit nicht tangieren sollte, ist es doch eine Herausforderung, der sich die Kirche als ganze stellen muß. Dazu gebe uns Gott Seinen Geist.
1. Homosexualität – eine Herausforderung der evangelischen Identität
Die Generalsynode im November 1992 hat sich auch gefragt, was es heißt, evangelisch zu sein und hat in ihrem Grußwort an die evangelischen Christen unter anderem geschrieben:
„Die evangelische Kirche lebt aus dem Glauben, daß Gott Freude an seinen Menschen hat… Das Lesen der Bibel hat stets auch die Freiheit zum kritischen Denken eröffnet… Das eigene Ringen um den Glauben, das rechte Handeln in der Liebe und die Bereitschaft zum Leiden können nicht ersetzt werden. Wir bitten: Besteht in der Freiheit! … Der evangelische Glaube achtet das Recht auf eigene Lebensgestaltung aller Menschen.“ Die evangelische Kirche „weiß sich besonders verpflichtet… den Menschenrechten, den Rech- ten von Minderheiten… Die menschliche Solidarität gehört unabdingbar zur evangelischen Identität.“
Es ist sicher eine schwere und das Empfinden vieler Gemeindeglieder belastende Aufgabe, diese so einmütig proklamierten Grundsätze über die evangelische Identität nun gerade in der Frage des Umgangs mit homosexuellen Menschen praktisch anzuwenden. Wir bitten jedoch die Glaubensgeschwister, sich dieser Aufgabe zu stellen, ohne sich von überkommenen Vorstellungen einerseits oder dem Drang nach Modernität andererseits in der nüchternen, aber auch liebevollen Urteilsfindung behindern zu lassen.
2. Bedenken, Ängste und Sorgen in unseren Gemeinden
(a) Es gehört zu den Grundüberzeugungen der Evangelischen Kirche, daß Heterosexualität und Einehe als lebenslange personale Gemeinschaft von Mann und Frau in besonderer Weise dem Schöpferwillen Gottes entsprechen. Evangelische Christinnen und Christen haben es daher immer als ihren Auftrag gesehen, für die Achtung und den Schutz der Ehe einzutreten. Viele Gemeindeglieder haben deshalb das Bedenken, das Besondere der Ehe zwischen Mann und Frau könne verlorengehen, wenn andere Formen der Sexualität für gleichwertig erklärt werden.
(b) Auch macht Gemeindegliedern Sorge, daß sie durch die Tolerierung homosexueller Praxis und Lebensfomen Sünde dulden oder ihr gar Vorschub leisten und biblischen Weisungen zuwiderhandeln.
(c) Eltern möchten in der Erziehung darauf wirken, daß ihre Kinder einmal zur heterosexuellen Partnerschaft und zur Elternschaft fähig werden. Viele haben darum Angst, daß die Kinder zur Homosexualität verführt werden könnten. Darum stellen nach Meinung vieler homosexuelle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Jugendarbeit und Religionsunterricht eine Gefahr dar.
(d) Es besteht die Angst, daß Jugendliche durch die Homosexualität an den Rand der Gesellschaft geraten, in ihrem Leben unglücklich werden, in die Kriminalität abrutschen, erpreßbar werden und durch Aids und Suizid besonders gefährdet sind.
(e) Viele haben Angst vor Homosexuellen, weil diese einer ihnen fremden Minderheit angehören. Vielleicht melden sich auch Ängste vor dem unbewußten Fremden in einem selbst.
3. Was die Bibel zur Homosexualität sagt
(a) Man muß unterscheiden zwischen einer homosexuellen Veranlagung, die keiner selbst wählt, und einer homosexuellen Praxis. Die Bibel rechnet an keiner Stelle mit der Möglichkeit einer Veranlagung zur Homosexualität. Zu ihrer Zeit hat darüber offensichtlich niemand nachgedacht; im Gegensatz etwa zur angeborenen Impotenz. (In Mt 19,12 sagt Jesus: „Etliche enthalten sich der Ehe, weil sie von Geburt an zur Ehe unfähig sind… Wer es fassen will, der fasse es.“)1 In Fragen möglicher homosexueller Veranlagung sind wir aus- schließlich auf humanwissenschaftliche Erkenntnisse angewiesen.
(b) Die Bibel spricht ausschließlich zur homosexuellen P r a x i s und setzt dabei offenbar voraus, daß die Betreffenden heterosexuell veranlagt und in der Regel verheiratet sind. Ihre homosexuelle Praxis gilt als Abfall von Gott und somit als Schuld. Sie wird nie auf eine Veranlagung oder frühkindliche Prägung zurückgeführt, für die kein Mensch etwas kann.
So soll im Alten Testament verhindert werden, daß Menschen, die unter dem 1. Gebot stehen, sich an der kultischen Homosexualtät der kanaanäischen Umwelt beteiligen. Während in der Frühzeit Israels David seine Freundschaft zu Jonathan ganz unbefangen aussprechen konnte, („deine Liebe ist mir wundersamer als Frauenliebe gewesen“ 2 Sam 1,26) ohne be- fürchten zu müssen, der homosexuellen Praxis verdächtigt zu werden, vollzieht sich später eine Verschärfung, die sogar die Todesstrafe für homosexuelle Praxis fordert. (3 Mose 18,22) Sie hängt mit dem Streben der Juden zusammen, ihre Identität im heidnischen Einflußbereich zu bewahren.
Wir haben im Neuen Testament kein Herrenwort zum Thema. Paulus weist in Röm 1,18-3,24 nach:
„Es ist hier kein Unterschied: sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Jesus Christus geschehen ist.“
Um von allen Menschen zu reden, spricht Paulus zuerst von den Heiden. Er sieht ihre Sünde in dem großen Abfall von Gott:
„Sie wußten, daß ein Gott ist, und haben ihn nicht gepriesen als einen Gott, noch ihm gedankt, sondern haben verwandelt die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes in ein Bild gleich dem eines vergänglichen Menschen und der Tiere. Sie haben Gottes Wahrheit verwandelt in die Lüge und haben gedient dem Geschöpf statt dem Schöpfer. Darum hat sie Gott dahingegeben in schändliche Lüste. Ihre Frauen haben den natürlichen Umgang mit dem unnatürlichen verwandelt. Ebenso die Männer haben den natürlichen Umgang mit der Frau verlassen und sind aneinander entbrannt… und haben so den Lohn ihrer Verirrung empfangen.“
Es geht um die Ursünde des Aufruhrs gegen Gott. Das Geschöpf wird anstelle des Schöpfers verehrt. Diese Vertauschung des Heiligen mit dem Profanen pervertiert das Leben. Paulus sieht diese Perversion besonders in der homosexuellen Praxis von Eheleuten. Was Paulus natürlich und unnatürlich nennt, bezieht sich genaugenommen auf Brauch und Kultur. Paulus nennt in 1 Kor 11,13-16 unterschiedliche Haartracht bei Frauen und Männern auch „naturgemäß“ und muß doch zugeben, von einem Brauch zu sprechen. Vor allem geht es Paulus um den Glauben. Und die Ursünde ist der Unglaube. Es geht um mehr als um moralische Verhaltensmuster, nämlich um das Gottes- und Menschenbild überhaupt. Was einzelne Verhaltensmuster anlangt, zeigt Paulus gegenüber der Ehe ein ebenso undifferenziertes Urteilen wie gegenüber der Homosexualität (vergleiche 1 Kor 7). Daß es eine homosexuelle Liebesbeziehung gibt, scheint er nicht zu wissen. Er sieht nur ein verantwortungsloses, triebhaftes und genußsüchtiges Verhalten. Er hält die homosexuelle Praxis für verhinderbar, für eine Sünde, die man zurücknehmen kann. Im Lasterkatalog in 1 Kor 6,9 und 1 Tim 1,10 werden Menschen, die Homosexualität praktizieren, aus dem Reich Gottes ausgeschlossen. Zur Todesstrafe des Alten Testamentes tritt hier die Strafe des zweiten und ewigen Todes hinzu. Paulus stellt Menschen mit homosexueller Praxis in eine Reihe mit Ehebrechern.
4. Homosexualität in humanwissenschaftlicher Sicht
Entstehung und Wesen der Homosexualität sind noch nicht einhellig zu klären. Folgendes aber kann aus medizinischer und psychologischer Sicht gesagt werden, ohne daß damit schon für bestimmte Verhaltensweisen eine ethische Wertung verbunden sein muß.
Homo- oder heterosexuell wird man nicht durch freie Willensentscheidung und nicht durch ein bestimmtes Ereignis. Die sexuelle Orientierung eines Menschen entsteht aus einem komplexen Zusammenwirken biologischer, psychischer und sozialer Faktoren. Die psychosexuelle Ausrichtung des Erwachsenen wird im frühkindlichen Alter grundgelegt. Es gibt zwar die Möglichkeit der Verführung zu homo- oder heterosexuellen Handlungen. Ein Mensch mit einer homo- oder heterosexuellen Identität kann aber nicht „umgekrempelt“ werden.
Heterosexualität und Homosexualität sind verschiedene Ausprägungen der einen vielgestaltigen menschlichen Sexualität.22 Homosexualität ist also nicht krankhaft, abnorm oder gar pervers, sondern eine Entwicklungsvariante und so auch eine Ausdrucksform menschlichen
Diese Änderung der Beurteilung kommt am deutlichsten in dem von der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft 1980 herausgegebenen Handbuch der Diagnosen zum Ausdruck, das die Homosexualität aus der Liste der psychosexuellen Störungen gestrichen hat. Ähnlich sind die Resolution 756 des Europaparlamentes von 1981 und der WHO-Code of Diseases 1993.
(Aus dem Gutachten von H. Kentler für den Senator für Jugend und Familie des Landes Berlin: „Homosexuelle als Betreuungs- und Erziehungspersonen unter besonderer Berücksichtigung des Pflegekindschaftsverhältnisses“, 1988. In: H. Kentler, Leihväter, Reinbeck bei Hamburg 1989, S. 83)
1 Es sein denn Matth 19,12 beziehe sich auch auf die Homosexualität. Dann aber gewinnt der Schlußsatz „Wer es fassen kann, der fasse es“ großes Gewicht und meint: Überlaßt diese Sache Gott und urteilt nicht über Menschen.
5. Versuch einer ethischen Beurteilung der Homosexualität aus evangelischer Sicht
(a) Wie gehen evangelische Christen mit der Bibel um?
„Das Lesen der Bibel im Gespräch in der Gemeinde war das Merkmal der Evangelischen von Anfang an, ist es und wird es bleiben.“ (Grußwort der Generalsynode 1992)
Daher ist es selbstverständlich, daß das ethische Urteil über die Homosexualität in der Evangelischen Kirche auf die Heilige Schrift gestützt sein muß. Allerdings werden sich evangelische Christen an das reformatorische Schriftverständnis halten. Die entscheidende Mitte der Bibel, an der sich die Inhalte der Schrift im Grad ihrer Verbindlichkeit orientieren, ist Jesus Christus und sein Wirken, das Sünder aus dem Gesetzesdruck und der Schuld und Angst befreit. Der reformatorische Grundsatz: „allein die Schrift“ (und nicht die Tradition der Kirche) steht völlig im Dienste des Grundsatzes: „allein Jesus Christus“ (und nicht die bloße Anwendung einzelner biblischer Sätze).
Martin Luther hat sich nicht gescheut, von der Mitte der Schrift aus Unterscheidungen und Wertungen zwischen den biblischen Büchern vorzunehmen. So nennt er etwa jene die
„rechten, gewissen Hauptbücher des Neuen Testamentes“, die ihm „Christum hell und rein dargeben… Welche das am meisten und höchsten treiben, wie der Glaube an Christum allein rechtfertig macht, das sind die besten Evangelisten.“
Auch scheut sich Luther nicht, biblische Einzelaussagen als zeitgebunden anzusehen, bzw. an Jesus Christus zu relativieren.
„Man muß mit der Schrift sorgfältig umgehen und verfahren. Das Wort ist nun seit An- beginn auf mancherleiweise ergangen. Man muß nicht allein darauf sehen, ob es Gottes Wort sei, ob Gott geredet habe, sondern vielmehr, zu wem es geredet sei, ob es dich be- treffe oder einen andern.“
Und an einer andern Stelle:
„In zeitlichen Dingen und in denen, die den Menschen angehen, ist der Mensch vernünftig genug; da bedarf er keines anderen Lichtes als der Vernunft. Darum lehrt auch Gott in der Schrift nicht, wie man Häuser bauen, Kleider machen, heiraten… soll, daß sie geschehen, denn da ist das natürliche Licht genug dazu.“3
Natürlich weiß Luther, daß die Bibel mancherlei Angaben und Anweisungen für dergleichen enthält. Aber er sieht darin nicht etwas, das Gott uns heute durch sein Wort lehren möchte. Von dieser Grundhaltung zum Bibelgebrauch ausgehend, konnte die Generalsynode 1992 – trotz mancher anderslautenden Bibelstellen gegen die Ordination der Frau – als Teil der evangelischen Identität feststellen, dass „die Gleichheit von Mann und Frau auch in der Kirche gilt, und beide in alle Ämter berufen werden können.“ Solch evangelischer Umgang mit der Heiligen Schrift ist auch bei der Homosexualität anzuwenden.
(b) Ethische Urteilsfindung Um zu einer ethischen Beurteilung der Homosexualität zu gelangen, sind wir – was das Wissen betrifft – auf die Ergebnisse der Humanwissenschaften angewiesen (da ja die Bibel zu einer Veranlagung nichts sagt) und auf die Grundeinstellung der Bibel, aus der wir die Motive des ethischen Urteils empfangen.
Das, was einem Menschen als Veranlagung vorgegeben ist, ist deshalb noch nicht eine von Gott gewollte Schöpfungsordnung. Die gesamte Welt ist nicht aus sich selbst gut, sondern sie soll es in Jesus Christus werden. Der Mensch, der sich Gottes Urteil unterwirft und anvertraut, gewinnt damit die Einstellung zu sich selbst und seinem Leben. Nimmt er sich nun in seiner Eigenart an, dann wird sie ihn nicht nur belasten. Sie kann ihm ein Ausdruck der Vielfalt des menschlichen Lebens werden – in der Freiheit zu oder von seiner Veranlagung. Er allein kann über sich entscheiden.
Ein solcher Glaubensakt der Selbstannahme fordert von der Kirche Ermutigung und Respekt.
Gesetze, von außen auferlegt, können nicht helfen. Weiter kommen aber alle, wenn das Ringen der Homosexuellen um Selbstannahme im Glauben an den Gott, der ihnen diese Veranlagung zumutet und zutraut, die anderen Christen dazu bringt, sich selbst in ihrer persönlichen Eigenart zu erkennen und zu ermutigen – und wer kann von sich behaupten, nicht in irgendeiner Weise „eigenartig“ und in seiner Weise „anders“ zu sein ?
(c) „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,32) Das geschieht, indem sie uns – die in die Probleme der Zeit Verstrickten – freimacht, Menschen die Treue zu halten:
Dies gilt gegenüber allen Menschen, besonders Minderjährigen, deren sexuelle Verführung immer als Schuld gelten soll. Speziell ist jede Gewaltsamkeit sexueller Aufklärung oder Annäherung, egal ob von hetero- oder homosexueller Seite, zu verurteilen. Es ist aber auch ein Unrecht zu unterstellen, daß hier homosexuell orientierte Menschen eine besondere Gefahr darstellen.
Das gilt gegenüber Eltern, die erkennen können, daß eine neutrale Begegnung ihres Kindes mit einem homosexuellen Menschen nicht „ansteckt“. Sie sollen ermutigt werden, ihr Kind ohne Einschränkung auch dann zu lieben und ihm Geborgenheit zu geben, wenn es sich als homosexuell herausstellt.
Sie sollten gebeten sein, auf sinnloses und nur belastendes Suchen nach einer Schuld an der Homosexualität ihres Kindes zu verzichten.
Dies gilt auch gegenüber den homosexuell veranlagten Menschen. Ihnen gebührt die Akzeptanz in der Gemeinde. Hinter vielen Argumenten, die dagegen vorgebracht werden, ver- birgt sich eine Angst vor dem Fremden und Andersartigen, die zu Erstarrung und gegenseitiger Abgrenzung und Anfeindung führt. Wer sich aber öffnet, Zuwendung wagt, kann seine Angst verlieren und den anderen, auch wenn er sein Handeln nicht billigt, als Bruder oder Schwester erkennen. Angst vor dem Fremden verführt dazu, allein sich selbst als des Wohlgefallens Gottes wert zu halten und zu vergessen, daß auch der andere von Gott angenommen wird (vgl. 1 Mose 4). Solche Angst wird in der Erfahrung der umfassenden Liebe Gottes befriedet:
„In Christus gilt nicht Jude noch Grieche, nicht Knecht noch Freier, nicht Mann noch Frau… , ihr seid allzumal einer in Christus Jesus.“ (Gal 3,28)
Halten wir Menschen die Treue, dann folgen wir dem nach, der uns und alle zu sich ruft:
„Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig. So werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ (Mt 11,28ff)
Sollten Homosexuelle nicht gerufen sein?
6. Gemeinschaft aus Heterosexuellen und Homosexuellen in der Kirche Schlußfolgerungen und offene Fragen
(a) „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“ (Kleiner Katechismus) Wir geben Ihm allein die Ehre, weil Er Gott ist und uns Sünder zu einem Leben mit Ihm befreit. Darum können wir Ihn
„lieben von ganzem Herzen, mit aller Kraft und in vollem Verstand“ (Mt 22,37) und ihm vertrauen, daß Seine Liebe, uns und den Mitmenschen zugewandt, letztlich für die Erlösung der Welt ausreicht. Sie ist das Maß, das neue Gebot, das Christus seiner Kirche gegeben hat. Sie lebt in Gottes Freude, die er an Seinen Menschen hat. Diese will erfahrbar werden in den unterschiedlichen Gemeinschaften, in denen Menschen der Kirche leben. Alle Gemeinschaft braucht eine Ordnung, die aber immer am Maß zu prüfen ist, ob sie Raum bietet für Gottes Freude und ob sie zur Liebe reizt. Darum müssen wir jederzeit „prüfen, was Gottes Wille ist, das Gute, das Wohlgefällige und das Vollkommene“ (Röm 12,2).
(b) Die Freude Gottes und das Doppelgebot der Liebe wird als Glück erfahren. Das ist erlebbar auch im Geschenk der geschlechtlichen Liebe. Da beglückt ein Mensch einen andern und erfährt darin Glück – und solche gemeinsame Freude geschieht Frommen und Unfrommen, Weisen und Törichten ohne jede Leistung und jedes Verdienst – geradeso wie „die Rechtfertigung der Gottlosen allein aus Gnaden“. Und beides – die Gnade und die Güte Gottes in ihrem Gleichnis in der geschlechtlichen Liebe – erkennt der Glaube allein. Das be- schenkte Schenken ist Kern christlichen Glaubens und gewinnt sein Modell in der dauerhaften hingebungsvollen Liebe der Menschen. Freilich findet diese ihre erste Gestalt in der Ehe. Der Schöpfungshymnus preist die Liebe von Mann und Frau (1 Mose 1,27). Und Jesus bezieht sich auf 1 Mose 2, 24:
„So sind sie ein Fleisch. Was Gott zusammengetan hat, soll der Mensch nicht scheiden.“ (Mt 19,6)
Und denkt dabei nicht an die Fortpflanzung. Das Kind ist nicht nur Produkt der Sexualität, sondern „eine Gabe des Herrn“ (Ps 127,3) – zu aller Freude dazu. Aber auch ohne Kinder verliert die geschlechtliche Liebe nichts von ihrer Würde als Glück und Gleichnis der Liebe Gottes. (Eph 5).
Auch zeigt sich die in der Sexualität wirksame seelische Kraft weit umfassender als nur im Augenblick der innigsten Vereinigung; sie erfaßt und beglückt in unterschiedlichen Ausprägungsformen das ganze Leben.
Und sie wirkt im Menschen, längst bevor er zeugungsfähig ist und nachdem er aufgehört hat, es zu sein. Darum lebt dieses gottgeschenkte Glück, das sich selbst verschenkt in Lebensgemeinschaften unterschiedlicher Art, auch von Ehelosen, in Klöstern und Kommunitäten. Sie wird auch erfahren in homosexueller Freundschaft.
(c) Im Urchristentum finden sich unterschiedliche Einstellungen zur Ehe. Jesus schätzt die Frau hoch und stellt so die Geschlechter einander gleich. Er will um der Würde des Menschen willen die Dauerhaftigkeit der Verbindung von Mann und Frau und die herzliche Treue der Gatten.
Der Apostel Paulus schätzt die Ehelosigkeit höher, um sich ganz seiner Bestimmung zu widmen.
Im Epheser-Brief wird die Ehe zum Gleichnis der Liebe Christi und der Gemeinde. Die Gemeinde selbst findet unterschiedliche Gemeinschaftsformen. Aber immer gilt das Maß aller Gemeinschaft von Christen: Freude aneinander und geteiltes Leid, Freiheit und Liebe, Vertrauen und Treue, Freundlichkeit und Güte, Hingabe und Selbstachtung, Geduld und Eifer, Sanftmut und Keuschheit. (nach Gal 5,22) Das sind die Früchte des Geistes, in denen die Freude Gottes an seinen Menschen zur Reife kommt. „Gegen sie ist das Gesetz nicht.“ (Gal 5,23 b)
d) Aus all dem ist klar geworden, was Sünde ist und was nicht. Sünde als Abfall von Gott ist Zerstörung von Treue, Freude, Freiheit, Liebe, Recht und Erbarmen… Das gilt immer und in jeder Art menschlicher Beziehung.
(e) Wenn Christen es wagen, sich nicht mehr vor einzelnen Gesetzen zu rechtfertigen (wie etwa vor den zitierten Sätzen des Alten Testaments und des Paulus), weil auch das Halten derselben vor Sünde nicht bewahrt, dann müssen sie ganz auf Christus allein setzen: Dann stellen sie Seine Liebe über alles, gewinnen sie die Freiheit je neuer Entscheidung, weil sie Ihm gehören und weder sich selbst noch der sie beurteilenden Gemeinschaft.
Der Theologische Ausschuß kann dem eingangs zitierten Auftrag der Generalsynode nur in der Weise nachkommen, daß er eine erste, theologische Stellungnahme zum Problem der Homosexualität abgibt. Dies kann aber nur der erste Schritt in einem umfangreicheren Prozeß sein, der die Diskussion auf allen Ebenen in der Kirche einschließt. In diesem ersten Schritt konnten Fragen, die sowohl durch die allgemeine Diskussion in Kirche und Gesellschaft als auch durch den präzisen Auftrag der Generalsynode gestellt sind, noch nicht be- antwortet werden.
Diese Fragen lauten:
1. Können die Gemeinden den Weg dieser Argumentation mitgehen?
2. Welche Konsequenzen können sich die einzelnen Gemeinden vorstellen?
3. Dürfen sich offen zur Homosexualität Bekennende in der Gemeinde Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen, Pfarrer oder Pfarrerinnen sein?
Der Theologische Ausschuß aber hat gelernt, daß Homosexuelle in der Gemeinde akzeptiert werden müssen.
Generalsynode der Evangelischen Kirche in Österreich, 17. Mai 1994
- Es sein denn Matth 19,12 beziehe sich auch auf die Homosexualität. Dann aber gewinnt der Schlußsatz „Wer es fassen kann, der fasse es“ großes Gewicht und meint: Überlaßt diese Sache Gott und urteilt nicht über Menschen.
↩︎ - In seiner Untersuchung über das Sexualverhalten der männlichen Bevölkerung der USA (1966) stellte A. C. Kinsey fest, „daß eine einseitige homosexuelle Orientierung und eine einseitige heterosexuelle Orientierung die Endpunkte eines weiten Spektrums aller möglichen sexuellen Orientierungen sind. Beschränkt man sich auf Männer, dann stehen den etwa 4% ausschließlich gleichgeschlechtlich orientierten Männern etwa 50% aus- schließlich an das andere Geschlecht gebundene Männer gegenüber, und dazwischen verteilen sich die restlichen 46% der Männer, die man als <Mischgruppe> bezeichnen kann, denn sie führen ein Sexualleben in dem sehr unterschiedlich ausgeprägte heterosexuelle und homosexuelle Orientierungen vorkommen. In dieser Gruppe gibt es Männer, die zeitlebens sowohl homosexuelle wie heterosexuelle Beziehungen brauchen, um sich wohl zu fühlen. Es gibt andere Männer, die nur eine Zeitlang in ihrem Leben auf homosexuelle Beziehung aus sind (z.B. in ihrer Pubertät), in ihrem übrigen Leben sind sie ausschließlich heterosexuell ausgerichtet. Bei einigen Männern kann in den sexuellen Beziehungen der homosexuelle Anteil überwiegen, bei anderen Männern der heterosexuelle. Schließlich gibt es Männer, die ihre homosexuellen Bedürfnisse nur seelisch-geistig befriedigen.“
↩︎ - Zitate aus folgenden Schriften M. Luthers: Vorreden zur Heiligen Schrift, 1545; Auslegung des 1. Petrusbriefes, 1523; Eine Unterrichtung, wie sich die Christen in Mose sollen schicken, 1525; Kirchenpostille, 1522 ↩︎